Stadtkirche St. Michael
Historie
Die Stadtkirche ist das zentrale Gotteshaus der Kirchengemeinde und des Ev.-Luth. Kirchenkreises Jena. Der Standort auf einem Felsvorsprung über dem Saaletal hat wahrscheinlich zwei Gründe. Zum einen ist das Gebiet in Höhe von Stadtkirche und Markt relativ hochwassersicher und zum anderen unterstreicht der erhöhte Standort die Bedeutung des Bauwerks.
Bereits im 9. Jh. werden die beiden Siedlungen Liutdraha und Jani im Hersfelder Zehntregister genannt (830-850, UB Hersfeld Nr. 37). Beide Dörfer Leutra und Jena haben romanische Kirchen aus dem 11./12. Jh. Der romanische Ursprung ist teilweise an der vormaligen Leutraer, heute Katholischen Kirche (siehe St. Johannis Baptist) noch gut zu erkennen. Dies bestätigt auch der archäologisch ergrabene Bau A von St. Michael. Strittig sind Größe und Bedeutung der beiden Kirchen im Mittelalter. Johannes Baptist geht mit seiner Größe über die Maße einer typischen Dorfkirche hinaus. St. Michael, die ältere Kirche, ist hinsichtlich Größe ungenau dokumentiert, da nur Teile der romanischen Anlage durch Grabung erkundet wurden. Auch die unterschiedlichen Bauzeiten könnten Größenunterschiede bedingen.
Als St. Michael im 13. Jh. zu klein wurde, entstand über dem Fundament von Bau A eine fast doppelt so große Saalkirche (Bau B). Diese Kirche mit etwa 36 m Länge einschließlich Chor und 11,5 m Breite war bereits von stattlichen Ausmaßen, hinzu kam ein Turm an der Westseite.
Etwa um das Jahr 1380 begann der Rat der Stadt mit dem spätgotischen Repräsentationsbau der heutigen dritten Kirche. Diese ist mit einer Länge von 54 m und einer Breite von 20 m von außergewöhnlicher Weiträumigkeit und gehört zu den größten Hallenkirchen in Thüringen. Sie stand in baulicher Verbindung mit dem dahinter liegenden Zisterzienserinnenkloster (seit 1301 erwähnt). Der vermauerte Zugang vom Kloster zur Nonnenempore ist an der Nordseite noch gut sichtbar.
Die Bauzeit der dreischiffigen Halle mit ehemals vier Portalen umfasste einen Zeitraum von ca. 130 Jahren. In einer ersten Bauphase entstand der Hohe Chor. Dessen einmalige Anordnung ist gegliedert in Hochaltar und darunter angeordnet Sakristei, Beinhaus und Altarunterführung. Diese Kavate (cavare: aushöhlen) unter dem Polygon diente aufgrund des Geländeabfalls als Zugang zum dahinterliegenden Kloster und ermöglichte liturgische Prozessionen um die Kirche. Als Jenaer Besonderheit gehört sie - im lateinischen Merkvers als „Ara“ (Altar) bezeichnet - zu den „Sieben Jenaer Wundern“.
Nach einer Bauunterbrechung wurde in einer zweiten Bauphase (1474 bis 1557) das Langhaus errichtet und der Turm aus der Symmetrieachse zur Verlängerung der Schauseite in die Flucht der Südfassade verschoben (Werkmeister Peter Heierliß, auch Kreuzigungsrelief am Turm). Aus unbekannten Gründen erfolgte eine Veränderung der Bauachse um drei Grad. Dies ist im Inneren an der Säulenausrichtung des Mittelschiffes gut zu erkennen und verursachte bei der Wiedererrichtung des Barockdaches deutliche Mehrkosten. Der Gesamtbau folgte in vielen Details den Wünschen des aufstrebenden Stadtbürgertums, das auch die Finanzierung größtenteils übernahm bzw. organisierte. So gehörte der Kirchturm erst ab 1933 auch juristisch der Kirche.
Das Brautportal ist in seiner Gestaltung ein Unikat der Architekturgeschichte; es trägt Züge der Parlerschen Bauhütte und beeindruckt durch feingliedrige Bauplastik sowie Breite und ungewöhnliche Tiefe. Bemerkenswert ist der obere Abschluss mit waagerechtem Maßwerk-Fries. Der Verzicht auf einen statisch sicheren Bogen erforderte höchste Steinmetzkunst. Dahinter befindet sich im Kircheninneren die Sängerempore. Der Bogen über dem Portal war früher mit zu öffnenden hölzernen Läden versehen. Damit konnten von der Empore aus die Brautzüge am Portal mit Musik empfangen und in den Innenraum begleitet werden.
Beachtenswert sind die Deckengewölbe. Die ohne Goldauflage weisen auf die Zerstörung im Krieg hin und wurden stark vereinfacht wiedererrichtet. Der kunstvolle Strahlenstern, erwachsend aus dem zweiten bis vierten Joch, überwölbt wie ein Baldachin den mittelalterlichen „Leutalter“ (Altar der Bürger) als Pendant des der Geistlichkeit vorbehaltenen Hochaltars. Aufwändig gestaltet sind auch die Strukturen und Schlusssteine in den Gewölben der Seitenschiffe.
Die Bauzeit des 75 m hohen Turmes erstreckte sich von 1489 bis 1556, weshalb dieser als Abschluss bereits eine Renaissancehaube erhielt.
In den 1770er Jahren wurde die spätgotische Schauseite barockisiert, um den Repräsentationscharakter die Kirche zu unterstreichen. Als Ersatz für das alte gotische Steildach erhielt die Kirche dazu passend ein Mansarddach.
Am 19. März 1945 wurde die Kirche bei der Bombardierung der Innenstadt stark beschädigt, Renaissancehaube und barockes Mansarddach waren Totalverlust; die Kirche brannte teilweise aus. Am 2. April 1955 konnte die wiederhergestellte Stadtkirche neu geweiht werden. Allerdings erhielt in dieser Nachkriegsphase die Turmhaube nur ein Notdach. Anlässlich des 500. Geburtstages Martin Luthers wurde 1983/84 das Kirchenschiff farblich neu ausgemalt.
Innenausstattung
Die älteste Kostbarkeit des Gotteshauses ist der Erzengel Michael (Michael I), der Schutzheilige von Kirche und Stadt. Diese wertvolle Holzplastik entstand um 1240 vermutlich in Bamberg und gehörte zum Inventar der spätromanischen Vorgängerkirche (Bau B). Seit Vollendung des gotischen Bauwerkes stand der Schutzheilige bis 1945 in einer eigens für ihn geschaffenen Schmucknische an der Südseite des Turmes. Dort befindet sich jetzt eine St. Michaels-Skulptur von Ernemann Sander (2002). Zur heutigen gotischen Kirche gehörte ein gotischer Michael (Michael II). Diese Holzplastik entstand 250 Jahre nach dem älteren Angelus jenensis. Es handelt sich um eine andere Interpretation des Erzengels, nicht als Drachentöter, sondern als Seelenwäger (Dan. 5,27). Als besonders ausdrucksstarkes Bildwerk aus der frühen Zeit des Chores ist die Jenaer Pietà erhalten geblieben (Ende 14. Jh.). Zur Vesperzeit wird der Leiden Christi und der Schmerzen Marias gedacht. Das hochwertige Vesperbild aus Böhmen könnte den Marienaltar der Stadtkirche geziert haben. Es steht heute im Jenaer Stadtmuseum ebenso wie das um 1520 entstandene Hochrelief der Marienkrönung.
Nach Einführung der Reformation wurde die Kirche sukzessive von den an den katholischen Ritus erinnernden Bildwerken „gesäubert“. Im Zuge einer massiven Innenraumveränderung unter dem Stadtbaumeister Carl Spittel verschwand Michael II 1875; er kam über Umwege in das Erfurter Angermuseum und blieb damit zumindest für Thüringen erhalten. An die Zeit der reichen Ausstattung der Stadtkirche mit bis 16 Altären und Schnitzwerken erinnerte außerdem der Hl. Wolfgang. Dieser befand sich an der Nordwand der Kirche; er trug als Kirchengründer früher ein Kirchenmodell in der rechten Hand. Wolfgang war Bischof von Regensburg; vom dortigen Kloster St. Emmeram waren Missionsmönche in Ost-Thüringen aktiv. Leider wurde die Holzplastik nach der Wende 1992 gestohlen. Die Wolfgangskapelle befindet sich im Erdgeschoss des Turmes und wird heute als Sakristei genutzt.
Die aus Stein gehauene Kanzel ist ein hervorragendes Werk der Spätgotik und mit drei Wappen versehen: Gekreuzte Schwerter der Wettiner, kurfürstlicher Rautenkranz, Wappen des Künstlers. Von dieser Kanzel hat Martin Luther mindestens zweimal gepredigt (22. August 1524; 12. Oktober 1529). Die Bronzeplatte mit dem Bildnis Martin Luthers an der Nordwand ist die Originalgrabplatte des Reformators. Von Lucas Cranach d. Ä. entworfen und in Erfurt 1548/49 von Heinrich Ziegler gegossen, gelangte sie wegen der Niederlage der Ernestinischen Sachsen gegen Kaiser Karl V. und dem damit verbundenen Verlust der Kurwürde nicht nach Wittenberg auf das Grab Luthers in der dortigen Schlosskirche. 1571 wurde die Grabplatte vom Weimarer Herzog der 1558 durch Johann Friedrich den Großmütigen (“Hanfried”-Denkmal auf dem Markt) gegründeten Universität Jena geschenkt.
Einige steinerne Epitaphe aus der Reformationszeit sind beachtenswert (rechtes Seitenschiff vorn):
1. Gregor von Brück (1483-1557 in Jena) war sächsischer Kanzler dreier Kurfürsten und maßgeblich an der Bekenntnisschrift der lutherischen Kirchen, der Confessio Augustana, beteiligt. Diese übergab er auf dem Reichstag in Augsburg an Kaiser Karl V. (1530).
2. Erhard Schnepff (1495-1558 in Jena) bedeutender Reformator, Pfarrer an St. Michael und Superintendent, Rektor der Hohen Schule und erster Dekan der Theologischen Fakultät an der neu gegründeten Universität Jena.
3. Friedrich von Kospoth (1569-1632 in Jena) Hofrichter und Stadthauptmann von Jena, sowie ein Epitaph seiner Frau und seiner Tochter.
Auf der „Nonnenempore“ (Nordseite) befindet sich eine seltene baugebundene Beichtzelle mit trennendem Eisengitter aus der Zeit des angrenzenden Nonnenklosters, die ursprünglich zwei Zugänge von außen für die Nonnen bzw. den Priester hatte. Dieser einmalige steinerne „Beichtstuhl“ ist dem Zwang geschuldet, in einer städtisch/bürgerlich geprägten Kirche monastische Erfordernisse architektonisch zu lösen.
Die Fenster im Chorraum stellen die drei Erzengel dar (von links): Raphael mit Tobias, Michael mit dem Drachen und Gabriel mit Maria (Fritz Körner, 1954). Neben und zwischen den Fenstern stehen die vier Evangelisten (von links): Matthäus (Engel), Markus (Löwe), Lukas (Stier) und Johannes (Adler) mit ihren entsprechenden Symbolen (19. Jh.).
Gemalt vom bedeutendsten Schüler Lucas Cranachs, Peter Gottlandt (Monogramm PG), befinden sich drei Gemälde an der Kirchen-Nordwand: 1. Anton Musa, zweiter ev. Pfarrer und erster Superintendent. 2. Dr. Erhard Schnepff, zweiter Superintendent. 3. Professor Johann Stigel (gestorben 1562), Dekan und Rektor der Universität.
In der Unterkirche entstand aus den Sakristeiräumen Ende des 17. Jh. im Zusammenhang mit der kurzen Existenz des Herzogtums Sachsen-Jena (1672 bis 1690) eine als Krypta bezeichnete Fürstengruft für den sächsischen Herzog Bernhard und dessen Familie.
Bis zum Jahre 1875 hingen in der Stadtkirche Ölgemälde der Superintendenten in Lebensgröße (ab diesem Zeitpunkt in der Garnisons-, später Friedenskirche, dann zwischenzeitlich im Archiv, heute wieder restauriert in der Friedenskirche): Johannes Gerhard (gest. 1637), Johannes Major (1654), Christian Chemnitius (1666), Adrian Beier (1678), Theophilos Cohler (1685), Georg Goetz (1699), Johann Weißenborn (1700), Michael Zülich (1721), Johann Georg Zeißing (1760), Christian Wilhelm Oelmer (1802) und Johann Gottlob Marezoll (1828).
Das Geläut besteht aus fünf Glocken, 1947 in Apolda gegossen, mit den Namen Seherin, Predigerin, Trösterin, Mahnerin und Ruferin.
Im Jahre 1962 konnte endlich die im Krieg zerstörte große Orgel mit 100 Registern der Firma Wilhelm Sauer (Frankfurt/Oder) ersetzt werden. Das heutige Schleifladen-Instrument der Orgelbaufirma Alexander Schuke (Potsdam) hat 51 Register auf drei Manualen und Pedal.
Restaurierung
Nach der Gründung des Kirchbauvereins Jena 1996, der als Bauherr fungierte, wurde mit der Sanierung der Kirche unter dem Vereinsvorsitzenden Dr. Franz-Ferdinand von Falkenhausen und dem verantwortlichen Architekten Dombaumeister Prof. Dr.-Ing. Wolfgang Deurer (Wesel) begonnen.
2000, 6. Oktober: Nach umfassender und kostenaufwändiger Sanierung des Turmes festliche „Himmelfahrt“ der rekonstruierten Renaissancehaube auf den 50 Meter hohen Turm-Stumpf (Grundlage der exakten Rekonstruktion war eine zufällige Zeiss-Messbildaufnahme).
2001, 16. Juni: Knopffest mit feierlichem Aufsetzen der Turmbekrönung incl. Kreuz. Restaurierung des Turmes incl. Einzeigeruhr und vier Zifferblättern abgeschlossen.
2003, 28. November: Richtfest zum Mansarddach - Kirchenschiff erhält sein 1945 abgebranntes barockes Dach von 1770 zurück.
2005, Fertigstellung des ca. 2000 m2 großen Mansarddaches mit aufwändiger Fensterfront.
2005, Übergabe des 1. Bauabschnittes am Kirchenschiff (drei Joche der Südfassade neben Turm).
2006, Sanierung Südfassade abgeschlossen, Gerichtsportal mit seinen zweimal drei Sitznischen erstrahlt wieder in seiner klaren gotischen Gliederung und einfachen Schönheit.
2008, Nordfassade restauriert: Die übereinander aus dem Baukörper herausragenden steinernen Balkenenden zeugen von den anschließenden Baulichkeiten der Zisterzienserinnen.
2009 Abschluss der Sanierung von Chor und Kavate.
2009, Juli; Ausstellung zum Glaskünstler Fritz Körner (1888-1955), nachdem die Restaurierung der drei von ihm geschaffenen Buntglasfenster des Chores abgeschlossen war.
2011, 11. Dezember: Feierliche Enthüllung des restaurierten Brautportals. Das Abtragen der schädigenden Krusten erfolgte mittels modernster Reinigungsverfahren (Lasertechnik); so wurde die ursprüngliche Ornamentik in beeindruckender Weise wieder sichtbar. Statische Ertüchtigung des Portals und Freilegung des bis dato durch Mauerwerk verschlossenen Bogenfeldes.
2012, Ostern: Wiederinbetriebnahme der Kirche nach Teilsanierung der Innenausmalung und Verlegen der neuen Fußbodenplatten aus Travertin.
2014, Für das Bogenfeld gab es kein historisches Vorbild. Als einzige Neuerung während der 20-jährigen Bauzeit schrieb der Kirchbauverein das Bogenfeld zur Gestaltung aus. Es wurde teiltransparent in Glas und zum Öffnen für Bläser in moderner Fassung gestaltet (Christine Triebsch, Burg Giebichenstein).
2015, 5. Juli, Eröffnungskonzert nach umfassender Sanierung der Orgel und spieltechnischer Erweiterung durch Eule-Orgelbau (Bautzen).
2016, Windfang am Gerichtsportal fertiggestellt.
Insgesamt wurden vom Kirchbauverein mehr als 14 Mio. Euro für die Restaurierung aufgebracht. Die Finanzmittel rekrutierten sich aus verschiedenen Förderprogrammen, ABM-Maßnahmen, Mitteln des Landes, der Europäischen Union, der Landeskirche, der Kommune, des Kirchbauvereins (z. B. Erlös aus Benefizbällen) und Spenden von Mitgliedern des Kirchbauvereins sowie Spenden von vielen Bürgern und ehemaligen Bürgern der Stadt Jena, auch aus Übersee.
Als Bundespräsident Joachim Gauck die Stadtkirche besuchte (2017), würdigt er sie als Ort der friedlichen Revolution und als gelungenes Beispiel eines vor der Wende geschädigten und nunmehr im neuen Glanz erstrahlenden Gotteshauses.
Text: Gerhard Jahreis, Fotos: Günter Widiger und Gerhard Jahreis (ältere Aufnahmen)